MARIELUISE

von  Kerstin Specht

Mit Hanna Schygulla

Regie Alicia Bustamante

Bühne und Kostüme Barbara Kraft

Musik Stéphan Oliva
Licht Benoît Théron
Produktionsleitung Luc Béril

„Diese Frau ist ein Besitz“, hat Kerr über die Fleisser gesagt, über eine der großen Frauenfiguren der deutschen Literatur. Eine, bei der das Leben zuschlug und die ihm mit einer Sprache antwortete, die keinen Vergleich hat und die noch die Nachgeborenen Kroetz und Sperr ausgesaugt haben für ihre Texte.

„Das Unglück trat leise auf und verhielt nach jedem Schritt die Sohle... Was Wunder, dass er einen Schleier vor seinen Blick legte, damit es ihm nicht zu krass ins Auge sprang...“, so was konnte sie noch 1934 schreiben, 1938 hatte sie einen Nervenzusammenbruch und musste in die Psychiatrie, 1943 arbeitete sie in einer Rüstungsfabrik, da war sie „in den Krieg eingesperrt und nicht nur in den Krieg“, sondern auch in eine Ehe, und da schrieb sie gar nicht mehr. „Fegefeuer in Ingolstadt“, das war der Erfolg und die Katastrophe, nach der man sie in ihrer Heimatstadt verachtete und in die sie doch wieder zurück musste, während ihre Freunde Feuchtwanger und Brecht Deutschland verlassen hatten. Die Tochter eines Schmieds, die Theaterwissenschaften studiert hatte und Dichterin sein wollte, hatte für ihre Überschreitungen zu büßen und wurde eine Hausfrau in karierten Kostümen, die sich nicht mehr an ihre Vergangenheit erinnerte. Aber dann geschah eine Art Wunder, sie wurde von einer jungen Generation wieder entdeckt, Sperr, Kroetz und Fassbinder wurden zu ihren literarischen Söhnen.
Zu ihrem 100. Geburtstag, 2001, vergab die Stadt Ingolstadt ein Auftragswerk über sie, und so schrieb ich ‘Marieluise’, sozusagen das größere Vorläuferstück zu dem jetzigen Monolog. In den Münchner Kammerspielen lief er unter dem Titel „Die Rückseite der Rechnungen“, und schon damals hab ich mir Hanna Schygulla gewünscht als Darstellerin, ja aus diesem Grund ist der Monolog überhaupt entstanden. Durch Hanna Schygulla, die auch so was wie ein ‘Besitz’ ist, ein Besitz des deutschen Kinos, die der Fleisser nah und auch nahe gekommen ist, bei Fassbinders Verfilmung der ‘Pioniere in Ingolstadt’, schließt sich für mich ein Kreis.
Kerstin Specht

Recklinghausen: Die Schygulla war “Marieluise” – Ein Erlebnis!

Claus-Dieter Stille | 22. Mai 2010, 15:10 Uhr

An kulturellen Höhepunkten fehlt es bei den diesjährigen Ruhrfestspiele in Recklinghausen (vom 1. Mai bis zum 13. Juni 2010) nun wahrlich nicht. Das Programm ist äußerst facettenreich. Und das ist auch gut so. Denn auch Goethe wusste ja bekanntlich schon: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. So war es

 

Ruhrfest2010-5.jpgAn kulturellen Höhepunkten fehlt es bei den diesjährigen Ruhrfestspiele in Recklinghausen (vom 1. Mai bis zum 13. Juni 2010) nun wahrlich nicht. Das Programm ist äußerst facettenreich. Und das ist auch gut so. Denn auch Goethe wusste ja bekanntlich schon: Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen. So war es dann auch in den Abendstunden des 19. Mai dieser Woche. Im Großen Saal des Festspielhauses gab man “Den zerbrochenen Krug” (Premiere war am 18. Mai 2010) in einer turbulenten und an komödiantischem Esprit reichen Koproduktion der Ruhrfestspiele und dem Maxim Gorki Theater Berlin, welche auf einer Adaption des Schauspielhauses Zürich basierte. In den Hauptrollen: Edgar Selge und Franziska Walser.

Die Ruhrfestspiele bleiben auf dem Teppich

Nebenan im Kleinen Theater des Ruhrfestspielhauses stand Stilleres auf dem Spielplan. Dafür betrat dort eine ganz Große ihres Faches die Bühnenbretter. Die Schygulla. Um es gleich vorweg zunehmen: Ein Erlebnis der Extraklasse. Wann schon hat man das Glück diese großartige Schauspielerin live auf einer deutschen Bühne (noch dazu in der Nähe seines Wohnortes) zu erleben! Dank gilt den Organisatoren der Ruhrfestspiele, dass sie Hanna Schygulla, die seit 1981 schon in Paris lebt, nach Recklinghausen holten! Denn hier – da bin ich mir sicher – gehört sie ganz genau hin. Die Ruhrfestspiele sind von Anbeginn ihres Bestehens bereits ein bewusst geerdetes Volksfestival. Inzwischen wohl das größte dieser Art in Europa überhaupt. Dennoch wird weiter auf Bodenkontakt geachtet. Hier bleibt man auf dem (imaginären) Teppich und braucht dennoch sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Anderswo (in Salzburg etwa oder in Bayreuth) wird dieser (rote) Teppich doch wohl in allerster Linie Leuten (meist die üblichen Verdächtigen aus High Society und Politik) ausgerollt – und von diesen auch gern betreten – die hauptsächlich kommen (oder denken, unbedingt kommen zu müssen), um gesehen zu werden, nur weil sie als Mitglieder einer über-Kaste, vorwiegend in den oberen Etagen der Gesellschaft zu Hause sind und die Geschicke ihrer Länder oder Konzerne, die sie führen, von dort aus mehr oder weniger gut leiten, oder auch an den Abrund führen können.Oder eben einfach nach Lust und Laune das Geld verprassen, das ihnen ohne eigne Leistung zugefallen ist. – Je nachdem.

Warum die Schygulla nach Recklinghausen gehört

Nicht so in Recklinghausen. Deshalb gehört auch Hanna Schygulla dort hin. Man kann die langjährige Fassbinder-Schauspielerin und Muse des leider viel zu früh verstorbenen Ausnahmeregisseurs R. W. Fassbinder dort getrost verorten.

Zunächst als Schatten erscheint die Schygulla hinter einem weißen transparenten Hänger. Dann tritt sie sanft und mit mäßigem Schritte weiter auf die Bühne hinaus, wovor schon um die 400 Zuschauer gespannt auf ihr Erscheinen warten. Die Schygulla trägt einen Koffer in der Hand. Sie ist Marieluise. Marieluise Fleißer, Tochter eines Schmieds aus Ingolstadt, die Theaterwissenschaften studiert hatte und Dichterin sein wollteund dann auch wurde.

Kerstin Specht schrieb “Marieluise”

Anläßlich von Fleißers 100. Geburtstag, 2001, vergab die Stadt Ingolstadt ein Auftragswerk über die Dichterin. Die 1956 in Kronach (Oberfranken) geborene Kerstin Specht – sie studierte Germanistik und Theologie in München – schrieb es und gab dem Monolog den Titel “Marieluise”. Kerstin Specht: “sozusagen das größere Vorläuferstück zu dem jetzigen Monolog. In den Münchner Kammerspielen lief er unter dem Titel “Die Rückseite der Rechnungen”. Schon damals, gesteht Kerstin Specht, habe sie sich Hanna Schygulla als Darstellerin gewünscht. Specht: “Ja, aus diesem Grund ist der Monolog überhaupt erst entstanden.”

Der berühmte Theaterkritiker Kerr hat einst über die Fleißer (eine der großen Fruenfiguren der deutschen Literatur) gesagt: “Diese Frau ist ein Besitz.” Kerstin Specht heute dazu: “Durch Hanna Schygulla, die auch so was wie ein ‘Besitz’ ist, ein Besitz des deutschen Kinos, die der Fleißer nah und auch nahe gekommen ist, bei Fassbinders Verfilmung der ‘Pioniere in Ingolstadt’, schließt sich für mich ein Kreis.”

Wer die Schygulla diese Woche in Recklinghausen erleben durfte, konnte das selbst deutlich spüren. Wer hätte sich besser für die Verkörperung der Lebensabschnitte der Mariluise Fleißer eignen können, wie die Schygulla?

Regie: Alicia Bustamante

Die kubanische Schauspielerin, Regisseurin und legendäre Figur der kubanischen Theater-, Film- und Fernsehszene, Alicia Bustamante (sie leitete zwischen 1985 und 1990 das Musiktheater Havanna), hat den Monolog inszeniert. Spechts Text hat die Kubanerin, gleichsam inszenatorisch  maßgeschneidert für die Schygulla, und den Monolog sorgsam für sie eingerichtet. Beide Künstlerinnen lernten sich 1991  beim Dreh einer Telenovela kennen auf Kuba kennen. Seitdem besteht zwischen ihnen eine enge berufliche Verbundenheit. Bustamante setzte u. a. Hanna Schygullas Stück “Zwischen zwei Welten” am Hebbel-Theater Berlin in Szene. Als künstlerische Mitarbeiterin steht Alicia Bustamante bis heute der Schygulla bei allen Solo-Bühnenprogrammen zu Seite.

Inszenierung, Bühnenbild und Licht minimal und im Einklang miteinander

Welch Anverwandlung war da auf der Recklinghäuser Bühne des Kleinen Theater zu erleben! Hanna Schygulla wurde vor den Augen des von der ersten Minute ihres Auftritts zu “Marialuise”. Die Bühne im Grunde leer. Ein paar von unsichtaren “Geistern” der Bühnentechnik hoch droben vom Schnürboden aus geschickt in die jeweilige Position manövrierte, weiße, an vier Punkten an Schnüren befestigte, Flächen – die mal Wände, mal Decke etc. sind – genügen als leises und unaufdringlich hingehauchtes Bühnenbild (eine einfach wie gleichzeitig geniale Lösung) von Barbara Kraft, das der Inszenierung von Alicia Bustamante bestens diente. Dazu nur der jeweils nötige Hauch von Licht (Benoit Théron), das den Monolog sanft unterstützt und zusammen mit den geschickt bewegten Hängern die nötigen Räume schuf. Darinnen leichtfüßig, aufgeregt, erwartungsfroh oder traurig schwer beladen von Seelennöten auf der Szene wandelnd: Die Schygulla.

Marieluise Fleißer hatte für ihre überschreitungen zu büßen

“Das Unglück trat leise auf und verhielt nach jedem Schritt die SohleWas Wunder, dass er einen Schleier vor seinen Blick legte, damit es ihm nicht zu krass ins Auge sprang..” (Programminformation) Das konnte die Fleißer noch 1934 schreiben. 1938 musste sie in die Psychiatrie. 1943 hatte sie in einer Rüstungsfabrik zu arbeiten, wo sie “in den Krieg eingesperrt und nicht nur in den Krieg” eingesperrt war. Sondern zu allem Unglück obendrein noch in eine Ehe. Fleißers Leben war alles andere als einfach. Der Vater verstieß die Tochter, weil sie Künstlerin sein wollte, in ihrer Heimatstadt Ingolstadt verachtete man sie. Sie erlebte den Erfolg, aber auch jede Menge Katastrophen. Fleißer hatte, wie geschrieben steht: “für ihre überschreitungen zu büßen und wurde eine Hausfrau in karierten Kostümen, die sich nicht mehr an ihre Vergangenheit erinnerte. Aber dann geschah eine Art Wunder, sie wurde von einer jungen Generation wieder entdeckt, Sperr, Kroetz und Fassbinder wurden zu ihren literarischen Söhnen.”

Wie all das die Schygulla spielte! Ja: Für eine Stunde und zehn Minuten lang war! Es ging einen an und nach. Tränen klopften bisweilen an die Augäpfel. Das Herz schnürte sich zusammen. Und es ging einen aber auch zuweilen wieder auf. – Am Ende:  Bravo-Rufe, frenetischer Beifall, donnerndes Füssegetrampeldann riss es einen hoch: Stehende Ovationen! Ein ehrlicher, zu Herzen gehender Abend. Zugabe von Schygulla: ein Chanson. Ein Lob auch ihrem seniblen musikalischen Begleiter (am Flügel) dieser großartigen Dame: Stéphan Oliva. Hanna Schygulla verabschiedete sich mit herzlicher Geste und entließ ihr Publikum erbaut, gerührt, aber auch in der Seele erwärmt in angenehm-nachdenklicher Atmosphäre in den späten Abend. Eine Diva wahrlich, wenn ich das so sagen darf. Allerdings im besten aller Sinne. Ohne jede Allüren. Die hat sie auch nicht nötig. Man spürt was sie ist: Einmalig. Ein Engel, der fest mit beiden Beinen auf dem Boden steht. Fassbinder hatte eine Antenne dafür